Wie die Linke das Wünschen verlernte
Transaktivisten betonen: Ein Transmann ist schon immer ein Mann gewesen, eine Transfrau eine Frau. Aber was ist mit Männern, die Frauen werden wollen? Und Frauen, die sich wünschen, Männer zu sein?
Was auch immer man an den Harry-Potter-Büchern schätzen mag, es sind gewiss nicht die tiefgründigen philosophischen Einsichten. “It matters not what someone is born, but what they grow to be”, so mahnt im vierten Band der weise Oberzauberer Dumbledore. Es hätte aber auch der Bundespräsidenten oder ein Mindfulness-Influencer sein können, der da spricht: “Was zählt, ist nicht, als wer man auf diese Welt kommt, sondern zu wem man heranwächst. Man kann den Satz heute in Online-Shops erwerben, als Sprüche-Print oder Wandtattoo für zuhause, fürs Rundumwohlfühlgefühl.
Es war ausgerechnet dieser harmlose Spruch, den ein Twitter-User kürzlich zitierte, in der Absicht, ihn gegen seine Urheberin in Stellung zu bringen, gegen J. K. Rowling. Spätestens seit die Schriftstellerin sich 2020 öffentlich beklagt hatte über die Formulierung “people who menstruate”, ist sie zu einer der prominentesten Figuren geworden im Kulturkampf, der tobt um die Frage: Wer ist eine Frau? Immer wieder wird Rowling von Linken “Transphobie” vorgeworfen; immer wieder befeuert Rowling solche Vorwürfe und kritisiert einen, so glaubt sie, überzogenen und fehlgeleiteten Transaktivismus. Dass ausgerechnet Rowling diese progressive Politik heute nicht mittragen will und sich renitent und unbelehrbar zeigt, steht das nicht im Widerspruch zur gutmütigen Feststellung ihres Dumbledore, der doch damals noch wusste, dass es nicht darauf ankommt, wer man früher war, sondern zu wem man wird? Das jedenfalls fand der Twitter-User, so war seine Kritik gemeint.
Tatsächlich aber reicht die Frage, die er aufwirft, viel tiefer – bis hinunter zum Fundament, auf dem die gegenwärtigen linke Vorstellungen von Politik ruhen. Der Widerspruch nämlich, den man hier vermuten würde, er löst sich schnell auf in Luft. Die Logik, von der Dumbledores wohlmeinender Allgemeinplatz noch zehrt, entspricht nämlich gerade nicht der fortschrittlichen Logik, auf die sich die Aktivisten heute berufen. In den Diskussionen um Transpersonen nämlich legen sie auf eine scheinbare ontologische Nuance besonders wert, nämlich darauf, dass eine Transfrau eben nicht früher einmal ein Mann war und jetzt zu einer Frau geworden ist. Dass ein Transmann schon immer, schon bei seiner Geburt, eigentlich ein Mann war.
Man wechselt also nicht das Geschlecht, man war schon immer Mann oder Frau. Aus dieser Hintergrundannahme ergeben sich erst die zeitgemäßen Sprechweisen, um die heute so gerungen wird. Man soll nicht sagen “Die Transfrau Eva wurde als Mann geboren”, sondern dass ihr bei der Geburt das männliche Geschlecht zugewiesen wurde. Man soll nicht sagen “Adam war früher eine Frau”, sondern: Er hat früher als Frau gelebt. Und so weiter.
Nimmt man diese Sichtweise einmal ernst (vielleicht ernster, als man sie nehmen sollte oder als Trans-Aktivisten sie selbst nehmen), dann scheint die allzu gemütliche Moral aus “Harry Potter” hier eben nicht mehr zu greifen. Es geht nicht mehr darum, zu wem man “heranwächst”, sondern wer man schon immer gewesen ist. Zu vernachlässigen sind zwar die rein äußerlichen Geschlechtsmerkmale, mit denen ausgestattet wir diese Welt betreten. Was viele Transaktivisten aber für entscheidend halten, ist die sogenannte “Geschlechtsidentität”. Mit welchem Geschlecht identifiziert sich ein Mensch? Fühlt sich diese Person wie ein Mann oder wie eine Frau? Diese Geschlechtsidentität muss nicht notwendigerweise von Geburt an feststehen, aber sie erscheint häufig als ein “Gegebenes”. Eine Tatsache, die schlicht feststeht, ohne dass das Subjekt darauf unmittelbar Zugriff hätte und sie manipulieren könnte.1
Es soll also gar nicht der Verdacht erweckt werden, es könne sich bei der Geschlechtsidentität um eine Entscheidung handeln, die man fällt. Naheliegend ist es darum, diese Identität sogar nativistisch auszubuchstabieren: Die Geschlechtsidentität kann so wenig eine Wahl sein wie die Augenfarbe, so lässt sich dann argumentieren, denn es handelt sich um eine “angeborene” Eigenschaft. In ihrem hilfreichen und klugen Essay “Who Lost the Sex Wars?” erwägt die britische Philosophin Amia Srinivasan diese Erklärung als eine von mehreren möglichen: “This would mean that people could have innate gender identities that express themselves in historically and culturally contingent ways. Such a view would require rejecting the thesis, dear to some feminists, that humans are born without any innate gender concepts.” Man wird also gar nicht “zur Frau gemacht”, so wie Feministinnen das jahrzehntelang theoretisiert hatten. Vielmehr wäre es recht wesentlich, dass man schon als Frau geboren wurde - das setzt heute allerdings keine bestimmten körperlichen oder biologischen Eigenschaften voraus, weder Vulva noch Doppel-X-Chromosome sind notwendig. Hinreichend ist allein die Tatsache, dass man mit der entsprechenden Geschlechtsidentität geboren wurde - auf die aber kommt es, pace Dumbledore, eben doch sehr an.
Man kann schon die Frage für einen Frevel halten, weil sie sich so luftig und abstrakt nur für einen Cis-Mann stellt, der vom Schmerz, der sich hinter ihr auftürmt, verschont geblieben ist
Heißt das zugleich, dass weniger eine Rolle spielt, zu wem man wird? Das Heranwachsen, das Dumbledore noch so schätzte, rückt jedenfalls in den Hintergrund, wenn Linke heute über Transpersonen sprechen. Es scheint, wie die oben aufgezählten Sprechweisen zeigen, einen gewissen Vorbehalt zu geben: Man will eine Transperson jedenfalls nicht festlegen auf die Rolle eines wandlungsfähigen Menschen, der einst ein Mann war, und sich dann entschied, eine Frau zu werden (oder andersherum). Dieser Verdacht scheint sich gegen jedes “Werden” und gegen jedes “Wollen” zu richten, das verbunden wäre mit der traditionellen biographischen Beschreibung, in deren Mittelpunkt das autonome Subjekt steht: Erst war man x, und dann später wurde man y, und zwar weil man das so wollte.
Woher rührt dieser Verdacht? Man kann schon die Frage für einen Frevel halten, weil sie sich so luftig und abstrakt nur für einen Cis-Mann stellt, der vom Schmerz, der sich hinter ihr auftürmt, verschont geblieben ist. Sie stellt sich hingegen nicht für den Transmann: Dass er nicht zu einem Mann geworden ist, sondern schon immer einer war, diese Erkenntnis ergibt sich schlicht daraus, wie sich sein Leben für ihn anfühlt. Es ist eine basale psychologische Tatsache, dass wenn nicht alle, so doch zumindest viele Transpersonen überzeugt sind: Ich hatte schon immer ein anderes Geschlecht als jenes, das Außenstehende mir überstülpen wollten.
Das ist, wie bereits zugestanden, eine völlig ausreichende Antwort auf eine womöglich provokante Frage. Allerdings wirft diese Antwort zugleich weitere Fragen auf: Inwiefern folgen aus der Einsicht, dass man schon immer x war oder schon immer y, in der Praxis andere Konsequenzen als aus der Einsicht, dass man x war, aber jetzt y sein will? Läuft beides nicht auf das Gleiche hinaus? Und wenn beides auf’s Gleiche hinausläuft, warum hält man den eher feinen Unterschied dann trotzdem für politisch so immens bedeutend? Auch der Wunsch, jemand anderes zu werden, kann aus einem tief empfundenen Schmerz erwachsen, den eine emanzipatorische Bewegung genauso ernst nehmen sollte wie den Schmerz, der sich einstellt, wenn man bereits jemand ist, aber von anderen nicht als dieser Mensch anerkannt wird. (Das womöglich einfachste Beispiel für den Schmerz der ersten Art wäre ein Arbeiter, der die Not der Klassengesellschaft hinter sich lassen will und sich wünscht, etwas anderes zu sein, zum Beispiel Kapitalist oder klassenlos in einer klassenlosen Gesellschaft – dazu später mehr.)
Dazu kommt: Diese ontologische Sichtweise wird keineswegs von allen Betroffenen geteilt. Amia Srinivasan verweist auf die vielen facettenreichen und ganz unterschiedlichen Selbsterzählungen von Transpersonen. “Many trans people, in making sense of themselves, refer to the idea of an innate gender identity; many do not.” Sie zitiert zum Beispiel die Journalistin Shon Faye, die sich 2018 empörte: “I am often surprised and infuriated by accusations that because I am a trans woman I am the proponent of an ideology or agenda that believes in ‘pink and blue brains,’ or in an innate gender identity that stands independent of society and culture. I believe no such thing (…).”
Es scheint jedoch, als hätten Transaktivisten aus diesen unterschiedlichen Selbsterzählungen vor allem eine herausgegriffen, um sie zu einem überspannenden Narrativ auszubauen. Es lautet: Wir sind schon immer Männer gewesen oder Frauen, wir haben uns nicht verändert - man hat uns zuvor nur nicht anerkannt als diejenigen, die wir waren. Srinivasan vermutet, dass, weil schon die Queer-Bewegung besonders erfolgreich war, als sie sich den Slogan “born this way” auf die Regenbogenflaggen schrieb, auch Transaktivisten sich diese Rhetorik nutzbar machten im Kampf um gesellschaftliche Anerkennung.
Das aber schiebt die Frage nur auf. Warum ist gerade “born this way” eine so anschlussfähige Erklärung?2 Spielt hier womöglich Verweigerungshaltung eine Rolle? Wer von Geburt an irgendwie ist und auch immer so bleibt, der ist gewissermaßen starr, er ist verknöchert und nicht flexibel formbar; solche Eigenschaften gelten heute als besonders dissident. Das geschmeidig anpassungsfähige Individuum, das sich stets wandelt und allerhand Selbsttechniken kennt, um an sich zu arbeiten, ist längst als “neoliberal” in Verruf geraten. Und in so einen neoliberalen Zusammenhang wollen die progressive Aktivisten natürlich nicht gerückt werden. Sie müssen sich wehren gegen Vorwürfe, wie sie zum Beispiel der Kulturwissenschaftler Andreas Bernard 2020 äußerte. Er schrieb damals in einem Essay über Identitätspolitik: “Individualität scheint heute gleichbedeutend mit der selbsttätigen, im vielfältigen Spektrum des Möglichen getroffenen Wahl des Geschlechts zu sein. Man könnte von einer neoliberalen Ideologie der Diversity sprechen.”
Es wäre schade, wenn sich Transaktivisten eine verkürzten Neoliberalismus-Kritik zu eigen machen und sich aus diesem Grund nicht mehr trauen, die Wahl, den Wunsch, die Änderung zu loben – aus Sorge, sie könnten sich sonst zum Büttel einer spätkapitalistischen Ideologie machen. Dass man nicht unter Leistungsdruck erst jemand werden muss, weil man schon immer jemand ist, und dass man immer jemand bleiben wird, egal ob man beständig an sich arbeitet oder nicht – diese Grundüberzeugung mag eine widerständige Haltung gegen jene Gegenwartstendenzen sein, die gern als “neoliberal” verschlagwortet werden. Dass jedes Werdenwollen bloßer Ausdruck von Marktförmigkeit wäre, das hingegen klingt eher wie eine Wahnvorstellung; es ist jedenfalls keine irgendwie berechtigte linke Sorge. Zumal sich der ideologische Kapitalismus-Supersaugroboter auch solche Dissidenz längst einverleibt hat. “Ich will so bleiben, wie ich bin”, sang eine Frau schon in den Achtzigerjahren im Werbesopt für eine fettarme Margarine, deren Markenname zugleich die trostreiche Antwort auf ihren Wunsch bedeutete: “Du darfst.” Zwischen Dumbledore-Wandtattoo und fettreduzierten Lifestyle-Produkten findet also noch jeder ein gemütliches Plätzchen in der herrschenden Ideologie, ob er nun das Ändern liebt oder die Beständigkeit.
Eine Frau wäre dann, wer so lebt und sich so verhält, kleidet, gibt, wie die traditionellen Frauenbilder es vorgegeben haben
Eines steht jedenfalls fest, folgt man dem transaktivististischen Mainstream: Eine Frau ist, wer über die entsprechende Geschlechtsidentität verfügt. Weitere Voraussetzungen müssen nicht erfüllt sein. Aber was genau bedeutet “Geschlechtsidentität”? Manche Feministinnen sorgen sich, dass diese abstrakte Kategorie inhaltlich nur mit konservativen Rollenmustern gefüllt werden kann. Eine Frau wäre dann, wer so lebt und sich so verhält, kleidet, gibt, wie die traditionellen Frauenbilder es vorgegeben haben. Auch an diesem Verdacht entzünden sich immer wieder neue Debatten.
Bereits 2016 hat die britische Philosophin Katherine Jenkins einen beeindruckend klugen Vorschlag unterbreitet, wie man den Begriff “gender identity” so verstehen könnte, dass er eben nicht hinausläuft auf reaktionäre Stereotypen, die Feministinnen eigentlich überwinden wollen. Jenkins geht davon aus, dass sich einem Menschen seine eigene Identität als eine Art innere “Landkarten” offenbart. Diese Landkarte führt beispielsweise eine Person, die als “Frau” klassifiziert wurde, auf vorgezeichneten Wegen durch die soziale Welt. Die Routen ergeben sich aus den zahlreichen normativen Erwartungen, die eine Gesellschaft an einen entsprechend klassifizierten Menschen richtet – zum Beispiel an eine Frau die Erwartung, dass sie sich die Beine rasieren soll, oder an einen Mann die Erwartung, dass er nicht weint und wenn, dann nur beim Fußball.
Man muss aber nicht bereits als Mann oder Frau klassifiziert worden sein, um eine Frauenlandkarte oder eine Männerlandkarte ausgehändigt zu bekommen. Manche Menschen haben schlicht eine weibliche innere Landkarte, ohne dass die Mehrheitsgesellschaft sie als Frauen wahrnimmt. Das heißt: Sie haben eine weibliche Geschlechtsidentität, ohne dass sie von anderen als Frau “gelesen” werden. Auch Gehorsam ist keine notwendige Voraussetzung: Man muss den Normen nicht tatsächlich Folge leisten, die auf der eigenen inneren Landkarte eingezeichnet sind. Jenkins schreibt: “On my definition, having a female gender identity does not necessarily involve having internalized norms of femininity in the sense of accepting them on some level. Rather, what is important is that one takes those norms to be relevant to oneself; whether one feels at all moved to actually comply with the relevant norms is a distinct question.”
Der kluge philosophische Schachzug besteht also darin, eine Geschlechtsidentität nicht zu verstehen als das Befolgen von Normen, sondern bloß als eine bestimmte Wahrnehmung von Normen. Ich verfüge über die Geschlechtsidentität einer Frau, genau dann wenn ich das Gefühl habe, dass gesellschaftliche Weiblichkeitsnormen auf mich abzielen - selbst dann, wenn ich sie ablehne, weil ich persönlich nicht glaube, dass ich mir als Frau die Beine rasieren muss.
Ein Grenzfall kann verdeutlichen, wie Jenkins Theorie funktioniert: Man stelle sich einen Menschen vor, der körperlich, habituell, emotional, was seinen Kleidungsstil angeht und in jeder anderen Hinsicht gesellschaftlich als Mann klassifiziert wird. Ein breitbeiniger Cowboy mit Penis und Adamsapfel, wortkarg und tapfer und so weiter. Dieser Mensch legt aber sein gesamtmännliches Verhalten nur gegen einen spezifischen Widerstand an den Tag, nämlich gegen sein tief empfundenes Gefühl, dass die Gesellschaft von ihm eigentlich etwas ganz anderes erwartet, weil er in Wirklichkeit eine Frau ist. Diese Person ist, Jenkins zufolge, tatsächlich eine Frau. Sie ist, verkürzt gesagt, eine Frau, denn ihre Beine sind behaart, aber aus Trotz. Sie sind behaart, obwohl die Person glaubt, dass gesellschaftlich eigentlich von ihr erwartet wird, sich die Beine zu rasieren.3
Wäre es mit Jenkins’ Definition vereinbar, wenn ein Mann erklärt, dass er eine Frau werden will? Oder legt uns ihre Perspektive bereits darauf fest, dass eine Transfrau schon immer eine Frau war? Für Jenkins ist jede Person eine Frau, die glaubt, sich zu den gesellschaftlichen Regeln verhalten zu müssen, die für Frauen gelten. Der Wunsch, eine Frau zu werden, liefe also darauf hinaus, dass man sich von der Gesellschaft wünscht, sie würde Regeln an einen herantragen, gegen die man sich im Zweifelsfall entscheidet, zu verstoßen. Kann man das tatsächlich wollen? Kann man sich wünschen, dass man sich zu einer Norm verhalten muss, die über einen verhängt wird? Es mag durchaus vernünftig sein, sich freiwillig in bestimmten Hinsichten einschränken zu lassen, so wie Odysseus, der sich an den Mast seines Schiffes binden ließ, um nicht dem Sirenengesang zu verfallen. Aber hätte Odysseus sich auch wünschen können, dass man ihn an den Mast bindet, nur um sich dann wieder kunstvoll aus den Fesseln zu befreien?
Jenkins beharrt darauf, dass ihr Begriff einer “gender identity” nicht bloß zusammenschnurrt auf eine Form der Unterdrückung. Er soll auch Raum lassen für positive, bejahende Weisen, diese Identität zu leben. Doch die einzige “nicht-unterdrückte” Lebensweise, die von ihrer Definition erfasst wird, besteht im Aufbegehren gegen die Unterdrückung. Ich kann meine gender identity so leben, dass ich mich auflehne gegen die herrschenden Normen und mich ihnen widersetze. Für alle, die eine bestimmte gender identity schlicht haben, zum Beispiel weil sie in sie hineingeboren sind, ist das eine gute Nachricht. Man kann aus dem mädchenrosafarbenen oder jungsblauen Gefängnis ausbrechen.
Dem Frausein einfach zu entfliehen, das erscheint in dieser Debatte allen Streitparteien als verachtenswerter Irrweg. Aber was wäre eigentlich schlimm daran?
Aber reicht diese begrüßenswerte Widerstandsmöglichkeit aus, dass ich mir vernünftigerweise jene Bedingungen überhaupt erst herbeiwünschen kann, gegen die ich Widerstand leisten will? Man fühlt sich hier an Jugendliche erinnert, die das Pech haben, von ihren Eltern antiautoritär erzogen zu werden, und die sich nun in der paradoxen Situation wiederfinden, dass sie sich so gern wünschen, die Eltern würden ihnen das Rauchen verbieten und ihnen vorschreiben, um zehn Uhr zuhause zu sein, nur damit sie dann endlich dreist gegen diese Regeln verstoßen können, wie es sich für Jugendliche gehört. Man kann durchaus daran zweifeln, dass solche Wünsche tatsächlich sinnvoll oder vernünftig sind. Schon Aristoteles hat bemerkt, dass zwar die Tapferkeit im Krieg eine Tugend sein mag, aber: “Niemand will Krieg und Kriegsrüstungen des Krieges wegen”. Kein vernünftiger Mensch wünscht sich, seine Tapferkeit unter Beweis zu stellen, wenn er es nicht muss.
Ganz straightforward hingegen stellt sich die Situation des Jugendlichen dar, der sich bloß wünscht, seine Eltern wären nicht so streng. Der Wunsch nach weniger Regeln, denen man sich unterwerfen soll, scheint geradezu selbstverständlich. Wenn ein Mensch also das Geschlecht wechseln will, könnte das natürlich bedeuten, dass er schlicht weniger Normen befolgen will. Angesichts der geltenden Machtverhältnisse könnte sich also eine Frau in diesem Sinne durchaus wünschen, ein Mann zu werden. Genau das aber ist die Unterstellung, die Transaktivisten so vehement zurückweisen. Ihre Kritiker vermuten immer wieder, dass die steigende Zahl der Transmänner sich nur als eine solche Ausweichbewegung erklären lässt: Junge Frauen wollen aus patriarchalen Zwängen fliehen, indem sie sich zu Männern erklären. “Jetzt stürmen vor allem junge Mädchen die Trans-Praxen. Ihnen suggeriert der Zeitgeist, die Flucht ins Mannsein sei die Lösung: gegen die Einengung und Zumutung des Frauseins in einer patriarchalen Welt”, warnt Alice Schwarzer. Und J. K. Rowling blickt auf ihr eigenes Leben zurück: “I’ve wondered whether, if I’d been born 30 years later, I too might have tried to transition. The allure of escaping womanhood would have been huge.”
Dem Frausein einfach zu entfliehen, das erscheint in dieser Debatte allen Streitparteien als verachtenswerter Irrweg. Aber was wäre eigentlich schlimm daran, sich aus der Frauenrolle herauszuwünschen? Für Differenzfeministinnen spielt sicherlich eine Rolle, dass die Kategorie Frau nicht aufgegeben werden soll, sondern gestärkt. Andere Feministinnen stehen der Abschaffung der Frau traditionell durchaus wohlwollend gegenüber, aber eben nur wenn die Voraussetzungen stimmen. Hier schließlich zeigt sich der eigentliche Unterschied zwischen linken und liberalen Vorstellungen von Wollen und Werden. Linke zeichnet aus, dass sie bei jeder Gelegenheit auf eine wichtige Unterscheidung hinweisen: In einer Klassen- und Konkurrenzgesellschaft gehen Aufstiegswünsche zwar für manche, nie aber für alle in Erfüllung – anyone can make it, but not everyone. Manche Arbeiter mögen zu Kapitalisten aufsteigen, aber nicht alle. Denn Voraussetzung dafür, dass es überhaupt Kapitalisten gibt, ist, dass es noch Arbeiter gibt und ihre Arbeit, deren Mehrwert der Kapitalist sich sich unter den Nagel reißt. Viele Feministinnen haben die Beziehung von Mann und Frau als eine ebensolche Klassenbeziehung analysiert: Ohne Frauen, die ausgebeutet werden, gibt es auch keine Männer, die ausbeuten.4 In diesem Sinne wäre der Wunsch einer Frau, zum Mann zu werden, zwar berechtigter Ausdruck der eigenen Ohnmacht. Er wäre aber genauso wenig ein linkes Projekt wie die Aktienrente.
All diesen Fragen und Schwierigkeiten entziehen sich Transaktivisten klugerweise, indem sie die Rede vom „Werdenwollen“ von vornherein ablehnen. Gelegentlich wird diese rhetorische Ablehnung als “strategischer Essentialismus” bezeichnet, und solche Strategie scheint tatsächlich aufzugehen. Gewissermaßen ist es nämlich heute einfacher (im Sinne von “simple, but not easy”), wenn man schon etwas ist, und dann durchsetzt, dass man als diese Person anerkannt wird. Die umgekehrte Richtung einzuschlagen, scheint jedenfalls noch aussichtsloser: Jemand wünscht sich erst, etwas zu werden, und versucht diesen Wunsch dann durchzusetzen. Die Widerstände wären unüberwindbar. Nicht nur die Durchsetzbarkeit des Wunsches ist höchst zweifelhaft, in einer Gesellschaft, die von sich selbst nur weiß, dass sie kein Wunschkonzert ist, und sich nie fragt, ob sie nicht lieber eines sein will. Auch das der Umsetzung naturgemäß vorgeschaltete Wünschen selbst hat seine Tücken. “Richtig wünschen ist die schwerste Kunst von allen, und sie wird uns seit der Kindheit abgewöhnt”, heißt es bei Adorno. Wir kennen diese Warnung auch aus den Märchen, die vom böswilligen Flaschengeist erzählen, der die Wünsche seines Meisters gerade so auslegt, dass ihre Erfüllung zur Zumutung gerät. „Be careful what you wish for, you just might get it“, das ist das Wandtattoo, für das wir uns als Gesellschaft tatsächlich entschieden haben.
Verständlich, dass nicht nur Transaktivisten, sondern weite Teile der Linke sich darum das Wünschen heute gleich ganz versagen, jedenfalls sobald es hinausreichen würde über die gesellschaftliche Anerkennung, die eingefordert wird. Ob diese rhetorische Strategie tatsächlich auf lange Frist sich auszahlt oder ob man sich bloß wunschlos unglücklich macht, das ist eine andere Frage.
Die Bilder wurden erstellt mit Stable Diffusion. Ich bedanke mich bei allen Mastodon-Usern, die den Text vorab gelesen haben, für ihre kritischen Kommentare.
So warnt zum Beispiel ein Diversity-Leitfaden, den die Universität Harvard herausgibt, Studenten davor, das Wort “lifestyle” im Zusammenhang mit Geschlechtsidentität oder sexueller Orientierung zu nutzen: “The term is disliked because it implies that being LGBTQ+ is a choice.“
Noch einmal: Auch der Wunsch, ein anderer zu werden, kann schmerzhaft und dringlich sein. Womöglich betrachtet die Mehrheitsgesellschaft einen Transmann, der mit weiblichen körperlichen Merkmalen, aber männlicher Geschlechtsidentität geboren wurde, als einen Menschen, der ganz unverschuldet in Not geraten ist. Anders blickt sie auf einen Mann, der sich wünscht, eine Frau zu werden - ihm wird unterstellt, die Gesellschaft mit seinen privaten Ansprüchen zu belästigen. Unklar bleibt jedoch, wie diese scharfe Unterscheidung begründet wird. Von einem Behinderten, der sich wünscht, normal am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen, würde schließlich kaum jemand behaupten, seine Not sei allein deswegen schon selbstverschuldet, weil er einen Wunsch geäußert hat.
Das heißt nicht, dass alles nur zur Glaubenssache wird. Wichtig ist, dass die normativen Erwartungen, um die es hier geht, tatsächlich an die Menschen herangetragen werden, die als Frauen klassifiziert werden. Wer behauptet, eine Frau zu sein, weil er glaubt, dass die Gesellschaft von ihm will, dass er rote Socken trägt, der ist selbst unter dieser ultraliberalen Definition keine Frau, denn es gibt keine solche gesellschaftliche Erwartung an Frauen. Eine solche Person könnte also nicht darauf beharren, als Frau bezeichnet zu werden – “although her sense of self would of course deserve respect”, wie Jenkins betont.
Besonders klar beschreibt die Philosophin Sally Haslanger diesen Zusammenhang in ihren Arbeiten, auf die auch Katherine Jenkins ausführlich Bezug nimmt.