Was finde ich überhaupt schlimm daran, eine Maske zu tragen?
Und warum kann man das Maskentragen zwar schlimm finden, aber trotzdem für eine Maskenpflicht sein?
Mir wurde auf Twitter, auch sowas passiert noch, eine vergleichsweise sachliche Frage gestellt: Was findest du am Maskentragen überhaupt so schlimm? Corona-Diskurs nervt und führt meist nirgendwohin. Mir scheint es dennoch tatsächlich lohnenswert, eine Antwort auf diese Frage versuchsweise zu formulieren, und zwar aus zwei Gründen:
Es gibt auf Twitter zumindest einige User, die laut eigener Aussage das Tragen von Masken in keinem Sinne auch nur irgendwie als Nachteil empfinden. Selbst wenn man sich darauf verständigen will, dass das Tragen einer Maske über fünf Stunden hinweg doch sehr wohl eine Einschränkung darstellt, antworten diese User verständnislos: “Unterwäsche ist auch ne Einschränkung. Zumindest für Exhibitionisten”, “Eine Maske, richtig getragen, schränkt nicht ein!”, “Es ist so sehr eine Einschränkung, wie 5h Schuhe tragen.” Andere gestehen das Maskentragen als Einschränkung ein, aber nur in einem Sinne, der nicht über das Allergewöhnlichste hinausgeht: “So viel Einschränkung wie bei grün über die Straße zu gehen.” “Es nervt auch auf grün an der Ampel warten zu müssen, in der Schule Mathe lernen zu müssen, es nervt total nicht mitten in einem Geschäft nicht pinkeln zu dürfen”
Fragt man mich “Was findest du am Maskentragen so schlimm?”, dann fällt es mir persönlich schwer, auf eine bereits formulierte Antwort zu verweisen. Wenn zum Beispiel der Schriftsteller Daniel Kehlmann gegen die Maskenpflicht anbringt, eine “maskierte Gesellschaft” sei kommunikativ irgendwie defizitär, dann kann ich persönlich mit diesem Argument nicht allzu viel anfangen. Selbst wenn das Argument tragfähig sein sollte, es scheint mir einfach nicht mein Grund, aus dem heraus ich selbst das Tragen der Maske “so schlimm” finde.
Was also stört mich, was über die Einschränkung hinausgeht, die das Tragen von Schuhen oder eine grüne Ampel darstellt? Bevor ich versuche, darauf eine Antwort zu geben, will ich eine wichtige Vorbemerkungen machen: In den jüngsten Debatten herrschte regelmäßig die Tendenz vor, alles holistisch zu bewerten. Das heißt: Man will nicht mehr zwischen Für und Wider abwägen, sondern nur das ganze als ein großes Gut oder ein großes Problem betrachten. Man konnte das in den Diskussionen um den Freiheitsbegriff beobachten, wo viele Linksliberale sich dafür aussprachen, dass eine aus guten Gründen beschnittene “Freiheit” nie tatsächlich eine gewesen sei, also in einem solchen Fall gar kein echter Freiheitsverlust vorliegt. Mir scheint diese holistischen Rhetorik unbrauchbar, weil sie politische und moralische Voreinstellungen verschleiert statt offen zu legen und weil sie analytisch so stumpf ist: Wir wollen doch gerade wissen, was gegen und was für eine Maßnahme spricht, und dann abwägen und eine Entscheidung treffen. Wie können wir das, wenn wir gar nicht zwischen Für und Wider trennen?1
Auch wenn ich damit rechne, dass alles, was ich hier schreibe, auf Twitter aus dem Zusammenhang gerissen und gegen mich verwendet wird, sei im Hinblick auf diese Trennung zwischen Für und Wider unbedingt klargestellt: Nichts von dem, was ich im weiteren gegen das Maskentragen einwenden werde, kann als Begründung dafür dienen, all things considered tatsächlich keine Maske zu tragen. Denn selbst wenn das, was ich formuliere, echten intersubjektiven Gehalt hat, dann sprechen zugleich ja auch weiterhin sehr intersubjektive Gründe für das Tragen der Maske; man muss also beide Seiten gegeneinander abwägen.
Inwiefern habe ich also persönlich ein Problem mit dem Tragen der Maske? Die etwas hilflose Formulierung, die aber bisher die einzige bleibt, die mir als Antwort eingefallen ist, lautet so: Ich finde das Maskentragen in gewisser Weise entwürdigend. Ich muss das sogleich wieder einschränken, weil der Begriff der “Würde” im Grundgesetz natürlich eine besondere Rolle spielt. Ich meine aber “Würde” hier nicht in diesem sehr starken Sinne, in dem sie unverletzlich sein muss und zum Beispiel ein Folterverbot begründet. Für mich gibt es einen schwächeren Sinn, in dem Praktiken “entwürdigend” sein können, die aber nicht pflichtethisch kategorisch ausgeschlossen werden, sondern die, je nach Abwägung, für eine Übergangszeit durchaus gerechtfertigt sein können.
Zugleich meine ich mit “entwürdigend” aber auch mehr, als man gelegentlich im Alltag damit meint, wenn man das Wort halbironisch verwendet, weil man zum Beispiel den Fahrradhelm “entwürdigend” findet, augenzwinkernd. Ein anschauliches Beispiel für das, was ich mit Entwürdigung meine, ist jene abendländische Urszene aus der “Odyssee”, in der Odysseus sich an den Mast seines Schiffes binden lässt, um nicht dem Gesang der Sirenen zu verfallen. So wie ich einsehen kann, dass es vernünftig ist, eine Maske zu tragen, sieht Odysseus ein, dass es vernünftig ist, sich an den Mast zu binden – und dennoch würde ich es, wäre ich Odysseus, als im schwachen Sinne “entwürdigend” empfinden, dort verschnürt und hilflos ausharren zu müssen. Man könnte sich eine dystopische Welt vorstellen, in der alle Menschen freiwillig immer bevor sie ein Kaufhaus betreten sich die Hände fesseln lassen, um Ladendiebstahl zu bekämpfen. Das scheint mir klarerweise in einem schwachen Sinne entwürdigend – und zwar völlig unabhängig davon, ob der Zweck, also der Kampf gegen Ladendiebstahl, das Mittel rechtfertigt oder nicht.
Noch einmal: Mir geht es hier nur um die Argumente gegen das Maskentragen, ich betrachte also die Rechnung ganz einseitig. Der Vergleich mit der Selbstfesselung hinkt tatsächlich auf beiden Seiten. Der Kampf gegen die Pandemie ist uns hoffentlich wichtiger als der Kampf gegen Ladendiebstahl; gefesselte Hände schränken uns außerdem wesentlich mehr ein als eine Maske. Und dennoch scheint mir diese “Übertreibung” hilfreich, die nicht polemisch gemeint ist und nicht als Warnung davor, was noch alles kommen könnte, sondern die allein einen didaktischen Zweck erfüllen soll: Wenn ich das Maskentragen “schlimm” finde, dann aus einem prinzipiell ähnlichen Grund aus dem heraus ich so eine Anti-Ladendiebstahl-Maßnahme ablehnen würde.
Eine Maske markiert uns als eine Gefahr; um diese Gefahr zu bändigen, verdeckt sie ein großen Teil unseres Gesichts; es wird in Kauf genommen, dass sie uns beim Kommunizieren zumindest behindert. Anders als eine Fessel steht sie natürlich nicht in der Tradition einer Praxis, die man Gefangenen oder Kriminellen antut. Querdenker haben die Maske dennoch immer wieder in solche Traditionslinien gerückt, am bekanntesten dürfte der Vergleich mit dem “Maulkorb” sein. Wenn sich Wutbürger wegen der Maskenpflicht als Sklaven eines Unrechtsregimes inszenieren, ist das natürlich erstens albern, weil es so weit weg ist von jeder Wahrheit, und zweitens gefährlich, weil es Notwehr-Phantasien evoziert.
Wenn ich mich aber ehrlich selbst befrage, warum ich das Maskentrage “so schlimm” finde, dann gehört zu der Antwort auch: Weil ich die Maske irgendwie, jedenfalls gelegentlich, gedanklich mit einem Knebel verbinde. Die Assoziation mag “ungerechtfertigt” sein, aber sie existiert in meinem Kopf, und offensichtlich existiert sie überhaupt nicht in den Köpfen all derjenigen, die mit der Maske gar kein Problem haben, siehe oben. Um meine Antwort also zusammenzufassen in einem einzigen Satz, der sicher bald bei Twitter ohne Kontext zitiert werden wird, um mich bloßzustellen: Für mich ist das Maskentragen vieles, aber eben auch eine Praxis, die mich an eine freiwillige Selbstknebelung wenigstens vage erinnert, und so eine Praxis empfinde ich in einem schwachen Sinne als entwürdigend. Ich hoffe, ich kann diesen subjektiven Eindruck irgendwie formulieren, und mich trotzdem zugleich angemessen von jedem Querdenkenblödsinn abgrenzen. Aus dem, was ich hier sage, folgt keinesfalls, dass es in Deutschland irgendwie undemokratisch zugeht oder ich ein BRD-Sklave wäre oder dass Widerstand zur Pflicht wird oder was sonst noch für brutale Wahnideen kursieren. (Es folgt allein daraus ja nicht einmal, dass ich keine Maske trage. Es sprechen ja, wie bereits erwähnt, auch gute Gründe für das Maskentragen, die entgegengesetzte Gründe übertrumpfen können.)
Ein sehr interessantes Argument, das gegen Maskenkritik wie die meine regelmäßig vorgebracht wird, lautet: Solche negativen Assoziationen sind doch allein deswegen ungerechtfertigt, weil viele Menschen im Beruf schon immer Maske getragen haben, zum Beispiel Chirurgen während stundenlanger Operationen. Hier scheint mir persönlich, aber das nur am Rande, der Unterschied entscheidend, ob ich eine Maske tragen soll während der konkreten Ausübung einer beruflichen Aufgabe, so wie ein Bauarbeiter einen Helm trägt; oder ob ich eine Maske tragen soll als Privatperson, einfach während ich “lebe” – und dazu gehören für mich Einkaufen und U-Bahn-Fahren. Ob also, anders formuliert, die Maske zu einer spezifischen, komplexen Aufgabe gehört – oder ob sie mich insgesamt als Mensch in der oben beschriebenen Weise einschränkt. Womöglich ist das als Antwort zu abstrakt, aber es ist tatsächlich mein persönliches Gefühl und keine irgendwie bloß vorgeschobene Erklärung. Das merke ich schon daran, dass mir das Maskentragen viel weniger “schlimm” erschien, als es noch eine scheinbar zeitlich sehr eng befristete Angelegenheit war und nicht immer mehr zu einer neuen Lebensweise wurde. Für mich macht es einen Unterschied, ob ich gerade aus einem Erdbebengebiet evakuiert werde, und während der Evakuierung einen Helm tragen soll; oder ob ich für die nächsten Jahre Helm tragen soll, weil hohe Erdbebengefahr besteht.2
Von der Maskenpflicht habe ich bisher noch gar gesprochen. Was es heißt, eine richtigen Sache auch zu einer staatlichen Pflicht zu machen, das ist natürlich eine eigene Frage, die ich hier gar nicht erst anreißen will. Eines aber scheint mir wichtig: Was auch immer (wenigstens für Liberale, Anarchisten oder wen auch immer) per se gegen Formen der staatlichen Pflicht spricht, es scheint mir noch einmal mehr gegen die Maskenpflicht zu sprechen. Warum? Weil die Vorstellung einer staatlichen Pflicht für mich auf ungute Weise die oben genannte Konnotation noch einmal verlängert. Es ist das eine, wenn Odysseus aus freien Stücken seine Gefährten darum bittet, ihn an den Mast zu binden. Es ist etwas anderes, wenn er es tun muss, weil sonst eine alles zwingende Gewalt einschreitet, der Leviathan – das einzige Seeungeheuer, mit dem selbst Odysseus es nicht aufnehmen könnte. Das, was schon an der freiwilligen Fesselung mir im schwachen Sinne entwürdigend erschien, tritt dann plötzlich viel deutlicher hervor. Analog gilt das für die Maske: Je mehr Pflicht, desto deutlicher tritt mir die Assoziation mit einem Knebel hervor. Das Maskentragen selbst kommt mir weniger schlimm vor, wenn ich weiß, dass ich sie jederzeit einfach ausziehen könnte, ohne damit gegen irgendein Gesetz oder eine Vorschrift zu verstoßen.
Es bleiben noch zwei letzte Fragen, die Twitter-User mir jetzt stellen werden.
(1) Wen zum Teufel interessiert’s, was irgendwer ganz persönlich subjektiv mit Masken in Verbindung bringt? Behalt doch deine komischen Phantasien für dich!
Meine Antwort fällt leider knapp aus: Es kann natürlich sein, dass das, was ich hier versucht habe zu verargumentieren, derart irrational oder jedenfalls so idiosynkratisch ist, dass es als Argument in einer politischen Debatte gar keine Rolle spielen sollte. Auf diese sehr grundsätzliche Frage habe ich für mich bisher noch keine wirkliche Antwort finden könnte.
(2) Selbst wenn, was du sagst, nicht idiosynkratisch sein sollte, weil andere die genannten Assoziation teilen, bleibt es dann nicht trotzdem ein ziemlich konservatives Argument, bloß auf dumpfe private Gefühle zu verweisen, die einen beschleichen könnten? Wo wir doch ganz progressiv unsere gefühlsmäßige Einstellung ändern könnten, auch gegenüber einer Maske, die dann in keiner Weise mehr als “Knebel” erscheint, sondern nur noch als Werkzeug der Solidarität?
Womöglich muss ich an dieser Stelle zugeben, was ich nur sehr ungern zugebe: Es ist möglich, dass ich in dieser Sache tatsächlich konservativ argumentiere. Wäre ich ein Mensch, der sich weiterentwickelt hätte und in der Maske nichts mehr von dem erblicken muss, was ich eben beschrieben habe, dann hätte ich weniger Schwierigkeiten mit der Maskenpflicht. Andererseits frage ich mich: Wohin hätte sich so ein Mensch denn weiterentwickelt? Entwürdigungen, selbst wenn sie nur im schwachen Sinne welche sind, könnten ja geradezu “metaphysisch notwendige” Folgen einer Praxis sein; sie bleiben also selbst dann Entwürdigungen, wenn die Menschen sie nicht mehr als solche wahrnehmen und sich daran gewöhnt haben. Es fällt mir nicht ganz leicht, mir eine Welt vorzustellen, in der alle meine Assoziationen zum Maskentragen völlig gegenstandslos geworden wären.
Ich gebe aber auch zu, dass ich hier an einen Punkt komme, an dem ich regelmäßig ins Schlingern gerate, und an dem ich mich manchmal auf einen Fatalismus zurückziehe, wie ihn zum Beispiel der Schriftsteller Dave Eggers angesichts ähnlicher Entwicklungen ausstellt: Dann ist das eben so, und alle Menschen tragen Masken für immer als stolzes Zeichen ihrer Solidarität und spüren dabei keinerlei befremdliche Wirkung; und ich gehöre eben zu den Letzten, die noch etwas “spüren”, nämlich dass Maskentragen ein bisschen entwürdigend ist. Und irgendwann sterben wir wenigen dann aus und die Frage stellt sich einfach nicht mehr und dann ist auch irgendwie gut oder jedenfalls die Diskussion vorbei.
Noch einmal: Was ich hier an Maskenkritik formuliert habe, bedeutet nicht, dass ich gegen das Maskentragen oder auch nur gegen die Maskenpflicht bin. Ich habe bloß eine Seite der Rechnung versucht auszufüllen. Dem Soll, den ich hier für mich persönlich beschreiben wollte, steht natürlich ein Haben gegenüber, das ebenfalls zu bemessen wären. Und dann muss ich beides irgendwie miteinander verrechnen. Bei dieser Rechnung ergab sich bis ins Frühjahr 2022 für mich: Eine Maskenpflicht ist jedenfalls nicht unplausibel. Aber wie lange gilt das noch?
In ihrem Aufsatz “Freedom as Independence” nennen Christian List und Laura Valentini eine Bedingung, die jeder plausible Freiheitsbegriff erfüllen muss: “The conception picks out as sources of unfreedom those modal constraints on action [...] that stand in need of justification.” Unbrauchbar scheint ein Freiheitsbegriff, der gar nicht erst erlaubt, dass man Freiheitsverluste als solche benennen kann, um sie dann, in einem zweiten Schritt, zu rechtfertigen. “[A] conception of freedom can fail to meet the desideratum by underascribing unfreedom, namely by implying that restrictions on action that clearly stand in need of justification are not sources of unfreedom.”
Eine ähnliche Abwägung gilt für das Maskentragen in Krankenhäusern, Arztpraxen, Apotheken – auch in diesen Situationen scheint es mir so, als würde die Maske mich nicht als Mensch einschränken, so wie sie den Chirurgen nicht als Mensch einschränkt. An diesen orten scheint mir das Maskentragen also nicht nur von noch besseren Pro-Argumenten gestützt zu werden, auch mein Contra-Argument entfällt in diesem Kontexten.