Warum man das Wort "Inflation" nicht mehr benutzen sollte...
...und was man stattdessen sagen könnte
UPDATE: Eine überarbeitete Fassung dieses Artikels ist am 13. 2. 2023 im Blog “Politik & Ökonomie” erschienen.
In dem langen Jahr, das sich nun dem Ende neigt, wurde viel von der Inflation gesprochen, die überall zu lauern schien. Ja, geradezu inflationär hat man 2022 den Begriff Inflation verwendet. “Wir haben Inflation. Die Preise galoppieren.” Das wusste der Bundesfinanzminister zum Beispiel im September in den “Tagesthemen” zu berichten. Und diese Inflation, die wir haben, sei, so fuhr Christian Lindner fort, sei “die größte Gefahr für die wirtschaftliche Entwicklung”. Ein anderer FDP-Mann, Justizminister Marco Buschmann, wusste diese Einschätzung noch zu überbieten: “Die #Inflation ist das größte soziale Problem derzeit”, schrieb er auf Twitter.
Was ist Inflation? Das Wort hat eine lange, umständliche Geschichte; sie dreht sich um Gold- und Silbermünzen, um mächtige Staaten, die den Materialwert ihrer Münzen verfälschten. Wenn Volkswirte heute von Inflation sprechen, spielt all das eigentlich keine Rolle mehr. Sie interessieren sich nur für den Preis-Index. Statistiker erstellen diesen Index, dafür sammeln sie die aktuellen Preise verschiedenster Güter und Dienstleistungen, vom Mehl über die Pizza bis zur “Herrenfreizeithose”, vom BH über die “Nettokaltmiete Einfamilienhaus” bis zu Gartenmöbel und Carsharing. Möglichst repräsentativ soll dieser berühmte “Warenkorb” das Konsumverhalten der Menschen abbilden. Und wenn der Preis-Index steigt, und zwar steil und nachhaltig, dann ist Inflation.
Das klingt nicht besonders kompliziert. Und doch ist es kompliziert genug, um hinter dem Begriff “Inflation” andere Fragen zum Verschwinden zu bringen. Wenn Liberale wie Christian Lindner über die Inflation klagen, dann erklären sie sogleich auch, wie sich dieses Problem richten lässt: Die Nachfrage muss sinken. Wenn die Europäische Zentralbank die Zinsen erhöht, verspricht man sich als Ergebnis eine Nachfrage-Reduktion. Und wenn die Nachfrage sinkt, dann sinken auch die Preise oder jedenfalls steigen sie nicht mehr so rasant.
Dass heute nicht mehr jeder dieser schlichten Logik folgen mag, auch das wurde im Jahr 2022 deutlich. Wenn es um Inflation ging, haben Linke in diesem Jahr vor allem über zwei Fragen diskutiert: Wenn die Preise steigen, woher wissen wir, ob die Unternehmen nicht bloß die Gunst der Stunde nutzen und zusätzliche Gewinne einstreichen? Und inwiefern ist eine strengere Zinspolitik überhaupt die richtige Antwort auf die Inflation?
Was in solchen Debatten, die sich meist für ein fortgeschrittenes Publikum entfalteten, gelegentlich unterging, das war eine viel banalere Frage. Was bekämpfen wir überhaupt, wenn wir die Inflation bekämpfen? Wenn strengere Geldpolitik gegen die Inflation helfen würde, was genau wäre dann mit so einem Manöver eigentlich gewonnen?
Wer die Inflation eindämmen will, der will vor allem Planungssicherheit erhalten. Steigt der Preisindex zu rasant und unvorhersehbar, gerät die Wirtschaft in Schwierigkeiten, weil keiner mehr genau voraussagen kann, welche Preise in Zukunft zu veranschlagen sind, angesichts von langfristigen Verträgen zum Beispiel oder wenn Waren bestellt werden oder Aufträge erteilt. Etwas technischer formulierte das der Volkswirt Rudi Bachmann auf Twitter: “Inflation ist letztlich eine Steuer auf dezentralen Tausch mit nominalen Assets.” Diese Steuer will man vermeiden, und das gelingt, wenn die Zentralbank die Inflation eindämmt.
Allerdings ist diese Unsicherheitssteuer nicht die von Lindner beschworene “größte Gefahr für die wirtschaftliche Entwicklung” , vor der so viele Menschen sich gerade tatsächlich fürchten. Genausowenig ist Inflation – solange damit diese Unsicherheit gemeint ist – „das größte soziale Problem derzeit“, wie Linders FDP-Parteifreund Buschmann behauptete.
Das größte soziale Problem derzeit, ist die traurige Tatsache, dass viele Menschen in Deutschland ärmer werden. Dass sie weniger Waren und Dienstleistungen konsumieren können. Darunter ächzen die Menschen, und zwar ganz unabhängig von jedem Preisindex und allen Fragen der Planbarkeit. Besonders heikel ist dieses Problem, weil man davon ausgehen muss, dass der Armut, die 2022 gewachsen ist, in Deutschland nicht ein anderer Reichtum gegenübersteht, der genauso gewachsen ist. Wir sind alle zusammen ärmer geworden, darauf schwören uns die Volkswirte in diesem Jahr immer wieder ein. Wir können also nicht einfach umverteilen und auf diese Weise die gleiche Wohlstandssituation herstellen, in dem wir gelebt hätten, wäre es nicht zu einem Krieg in Europa gekommen. Es gibt heute in Deutschland schlicht weniger, das umverteilt werden kann.1
Inflationsbekämpfung ist keine Armutsbekämpfung. Wie soll eine Nachfragedämpfung dem Bürger dabei helfen, seinen Wagen wieder vollzutanken?
Wichtig ist nun, dass man dieses Ärmerwerden von der Inflation zu unterscheiden weiß. Dass wir, einerseits, alle ärmer geworden sind und dass, andererseits, der Preix-Index steigt, das sind keineswegs einfach zwei synonyme Beschreibungen der genau gleichen Tatsache!
Warum, das lässt sich besonders eindrücklich zeigen, wenn man einmal solche Rhetorik unter die Lupe nimmt, die, sei’s aus Kalkül oder Versehen, diese beiden Aspekte fälschlicherweise ineinanderschiebt. Ebenfalls im September klagte zum Beispiel der Unternehmer und FDP-Spender Frank Thelen in einem Video über die Inflation. Die Klage führte er im Namen der einfachen Verbraucher, die, so betonte er, in Bedrängnis geraten. Denn bald könnten die sich, wie Thelen mit besonders besorgter Mine ausführte, Miete, Auto und die Lebenshaltungskosten nicht mehr leisten.
Dabei hat das eine mit dem anderen gar nichts zu tun. Inflationsbekämpfung ist keine Armutsbekämpfung. Auch Thelen will, dass die EZB die Nachfrage dämpft, um die Inflation zu dämpfen. Wie aber soll eine Nachfragedämpfung dem Bürger dabei helfen, seinen Wagen wieder vollzutanken? Gar nicht; der Bürger würde dann einfach weniger tanken – und er hätte weniger Geld, denn auch seine eigenen Einnahmen würden schrumpfen, solange die Nachfrage nachlässt. Wenn also Verbraucher beklagen, dass sie sich das Benzin nicht mehr leisten können, dann ergibt es wenig Sinn, ihnen auf diese Klage zu antworten: Konsumiert doch alle weniger, dann verdient ihr zwar auch alle weniger, aber dafür werden die Waren wieder billiger! Unterm Strich hätte sich dann gar nichts geändert an ihrer Situation.
Thelens Video zeigt: Wer “die Inflation” bekämpfen will, der erweckt also gelegentlich den falschen Eindruck, auf diesem Weg auch den Wohlstand zurückzuholen, der uns verloren gegangen ist, seit Russland den Krieg begann.2 Selbst als man im Wirtschaftsteil der Süddeutschen Zeitung kürzlich der Zentralbank vorwarf, dort sei zu lange mit Zinserhöhungen gezögert worden, begründete man diesen Vorwurf so: “Viele Bürger sind nun von Armut bedroht.” Manche linke Kritiker reagieren, sobald irgendwo ein Liberaler für Zinserhöhungen plädiert, inzwischen mit einer rhetorisch geschickten Gegenfrage: Wenn das Problem zum Beispiel der Gasmangel ist, was hilft uns dann die EZB? Die fördert für uns ja auch keines!
Es scheint, als würde man vor lauter Inflation die Welt hinter dem Begriff gar nicht mehr sehen. Was ist tatsächlich der Zusammenhang zwischen Inflation und Ärmerwerden? Um das zu beantworten, muss man zuerst einmal festhalten, dass die Inflation, wie Volkswirte sie verstehen, auf zwei mögliche Ursachen zurückgehen kann, die unterschiedlicher nicht sein könnten.
Entweder die Preise steigen, weil die Nachfrage steigt, also mehr Geld zugleich dieselbe Menge an Gütern nachfragt. Diesen Zusammenhang haben Lindner und die anderen im Sinn, wenn sie die Nachfrage dämpfen wollen.
Oder aber, das ist die andere Möglichkeit, die Preise steigen, weil die gleiche Nachfrage plötzlich auf weniger Güter trifft – ein “Angebotsschock” sorgt dafür, dass die Gütermenge kleiner ist als zuvor. Zum Beispiel fließt plötzlich kein Gas mehr durch die Pipelines. Alle sind ärmer geworden.
Volkswirte berücksichtigen diese unterschiedlichen Ursachen, indem sie einerseits von einer “Nachfrageinflation” sprechen und andererseits von einer “Angebotsinflation”. Nun ist es allerdings nicht so, als ließe sich eine Nachfrageinflation nur bekämpfen, indem man die Nachfrage dämpft – oder eine Angebotsinflation nur, indem man das Angebot erweitert. Weil sich Preise bekanntlich aus Angebot und Nachfrage bilden, kann jede der beiden Inflationformen sowohl über das Angebot als auch über die Nachfrage reguliert werden – egal, ob ihre Ursache eigentlich nur im Angebot oder nur in der Nachfrage lag.
Was Lindner sagte, war also in einem Sinne gewiss richtig: Eine Angebotsinflation lässt sich zumindest theoretisch mit den gleichen geldpolitischen Mitteln bekämpfen, mit denen man eine Nachfrageinflation bekämpft. Man erhöht die Zinsen und hofft, dass weniger konsumiert wird. Dann passt die gesunkene Nachfrage wieder zum bereits vorher gesunkenen Angebot. Man gleicht sozusagen alles einander an, aber nach unten. Man kann eine Angebotsinflation mit Geldpolitik bekämpfen, so wie man auch verhindern kann, dass die Badewanne überläuft, indem man den Wasserhahn zudreht, selbst dann wenn das Problem tatsächlich darin besteht, dass der Abfluss verstopft ist.
Die Verwirrung aber entsteht, sobald man die Übersicht verliert und nicht mehr säuberlich die Ursache von der Wirkung trennt. Wenn wir ärmer werden, dann ist das eine von zwei möglichen Ursachen für Inflation. Leider hat dieser mögliche Zusammenhang (alle werden ärmer, dann Inflation) dazu geführt, dass der Begriff “Inflation” selbst inzwischen so klingt, als bedeute er immer, dass alle ärmer werden.3 Das aber ist fatal. Denn zugleich kann man theoretisch auch jede Inflation bekämpfen, indem man Geldpolitik betreibt und die Nachfrage drosselt. Dann manipuliert man einen anderen Zusammenhang (mehr Nachfrage, dann Inflation) und sorgt dafür, dass die Inflation sinkt. Nun kommt es zum folgenden Kurzschluss: Wenn man (1) Inflation mit Geldpolitik bekämpfen kann und (2) Inflation irgendwie so klingt, als ob alle ärmer geworden sind, dann wirkt es so, als könne man dieses Ärmerwerden mit Geldpolitik bekämpfen. Das aber ist natürlich Unsinn.
Womöglich ist der Begriff “Inflation”, der so technisch präzise wirkt, eigentlich eine Fehlkonstruktion, die uns heute kaum mehr Orientierung bietet und eher Verwirrung stiftet. Man sollte das Wort aus dem Sprachgebrauch nehmen, so wie man einen alten Geldschein aus dem Zahlungsverkehr nimmt, sobald er so verschlissen ist, dass man mit ihm nichts mehr anzufangen weiß. Selbst wo kein Liberaler absichtlich sein politisches Geschäft betreibt mit dieser begrifflichen Unschärfe, da bleibt ein Problem: Der Inflationsbegriff ist als Werkzeug in unserer Krise so nützlich wie ein Hammer, will man eine Schraube ins Holz befördern. Man findet schon irgendwie heraus, wie es gemeint ist, aber sauberer wär‘s, man hätte tatsächlich einen Schraubenzieher.
Es spricht also manches dafür, unser begriffliches Inventar zu überarbeiten. Wie können wir über das wirtschaftliche Geschehen, das wir bisher unter der Spannweite des Dachworts “Inflation” verhandelt haben, in Zukunft besser sprechen? Wie können wir der Verwirrung, die ich oben beschriebene habe, entkommen?
Tatsächlich hilft es, sich einmal genau die moralischen Beweggründen anzuschauen, die Inflationsbekämpfer zitieren für ihre Sache. Der Sparer, so empören sich regelmäßig Liberale, werde durch die Inflation “enteignet”. Dieses moralisierende Urteil kann aber, sofern es überhaupt je richtig ist, nur gelten, wenn von einer Nachfrageinflation die Rede ist. Wenn, genauer gesagt, der Staat oder die Zentralbank aktiv herbeiführt, dass die Nachfrage schneller steigt, als die Gütermenge wächst. Bei einer Angebotsinflation hingegen wären die moralischen Vorzeichen vertauscht: Gerade ein liberaler Apologet der Märkte müsste angesichts einer echten Preissteigerung zugestehen, dass hier nicht böse Mächte sich am Sparvermögen treuherziger Bürger vergreifen, sondern dass sich schlicht das Preissignal auch in diesen Sparvermögen abbildet. Gas ist knapper, Sachen sind teurer geworden und deswegen kann ich mir von meinen Ersparnissen weniger kaufen.
Der Liberale sorgt sich um die Geldentwertung. Der Teuerung steht er hingegen leidenschaftslos gegenüber, insofern sie schlicht Ergebnis eines “Marktprozesses” ist
Gerade die monetäre Moral von liberalen Inflationsbekämpfern lässt sich also wesentlich genauer erfassen, wenn man eine ganz andere Nomenklatur nutzen würde als die gewohnte. Und tatsächlich kennen wir zwei geläufige Wörter, “Teuerung” und “Geldentwertung”, die bisher meist als bloße Synonyme zum Wort “Inflation” verwendet wurden; sie könnte man umwidmen, um für Klarheit zu sorgen. Der Liberale zum Beispiel sorgt sich um die Geldentwertung. Der Teuerung steht er hingegen leidenschaftslos gegenüber, insofern sie schlicht Ergebnis eines “Marktprozesses” ist, und deswegen womöglich ein Problem, aber kein moralisches Vergehen. Die neue Nomenklatur könnte also so aussehen:
Das, was Volkswirte heute „Inflation“ nennen, heißt in Zukunft einfach: Der Preisindex steigt. Konsumgüter sind in einem, und das ist hier entscheidend, nominalen Sinne teurer geworden. Die Zahlen, die auf den Preisschildern stehen, sind höher als früher. Das bedeutet nicht unbedingt, dass sich auch wirklich etwas verändert hat – dass wir wirklich ärmer geworden sind. Wir können uns durchaus vorstellen, dass morgen auf den Schildchen alles doppelt so teuer ist, aber jeder verfügt zugleich über doppelt so viel Geld. In Russland reformierte man 1998 den Rubel: Ein neuer Rubel war 1000 alte Rubel wert. Weil das für die Preise genauso galt wie für die Löhne, war die Änderung bloß dem Namen nach eine – nominal.
Manchmal aber ändert sich tatsächlich etwas. Wir werden tatsächlich alle zusammen als Volkswirtschaft ärmer, eine Angebotsinflation ist dann die Folge. Für diesen Umstand nutzen wir in Zukunft das alte deutsche Wort „Teuerung“, wie wir es schon aus der Bibel kennen. Die Teuerung passiert nicht auf den Preisschildern, sondern auf robuste Weise in der echten Welt, jenseits der Schilder – denn dort werden Güter knapper, ohne dass zuvor die Nachfrage gesunken wäre. Wir leiden aktuell unter Teuerung, denn es gibt weniger Gas, und das nicht, weil wir etwa weniger Gas wollen und darum die Produktion gedrosselt wurde.
Das, was hingegen als Ursache einer “Nachfrageinflation” ausgemacht wird, nennen wir in Zukunft „Geldentwertung“. Denn genau das ist ja gemeint: Ein Euro ist weniger Wert geworden, denn er muss plötzlich mit mehr anderen nachfragenden Euros konkurrieren, wenn ich ihn nutzen will, um Güter zu kaufen.
Der Begriff „Inflation“ entfällt, weil er unter der Last aller widersprüchlichen Assoziationen zusammenzubrechen droht.
Was man so gewinnt, ist Klarheit. Ursache und Wirkung geraten nicht mehr durcheinander: Der “Kampf gegen die Inflation”, wie Lindner und Thelen ihn führen wollen, kann dann nicht mehr verschummelt werden zu einem Kampf gegen die Teuerung, der ganz anders zu führen wäre. Der liberale Kampf erscheint nur noch als das, was er immer war: der bloße Versuch, einen nominalen Preisindex zu stabilisieren, damit die Transaktionen im Wirtschaftsgeschehen möglichst reibungslos funktionieren. Und jetzt wird auch deutlich, wie verzerrt unser öffentliches Gespräch war: Wir leiden unter Teuerung, aber reden den ganzen Tag nur über den Preisindex – so, als hätte ein Patient eine gefährliche Krankheit und die Ärzte sprechen nur darüber, wie sie das Fieber senken können, damit dem Patienten nicht zu warm wird.4
Wie kam es zu dieser Verzerrung unserer Debatten? Ein Grund: Volkswirte müssen einen komplizierten Umweg wählen, um die Lage zu beschreiben, in die wir geraten sind und in der wir alle zusammen als Volkswirtschaft ärmer werden. Was oben einfach “Teuerung” genannt wurde, liegt für sie dann vor, wenn zwei Bedingungen erfüllt sind. Erstens muss das reale Bruttoinlandsprodukt fallen; das zeigt ihm an, dass es weniger Güter gibt. Das allein reicht aber nicht aus – denn das reale BIP fällt auch, wenn die Konsumlust einbricht oder eine Gesellschaft sich plötzlich für Degrowth entscheidet. Der Volkswirt muss also herausfinden, ob der BIP-Einbruch bloß von mangelnder Nachfrage herrührt oder ob er von einem mangelnden Angebot ausgelöst wird. Dafür wiederum muss er auf das nominale Preisniveau blicken: Wenn es während einer Rezession fällt, dann schwächelt die Nachfrage. Wenn es in einer Rezession steigt, ist das Angebot knapper geworden. Letztlich ist der Volkswirt also zurückgeworfen auf jenes Begriffsgespenst, das während der Ölkrise der Siebziger berühmt wurde: die Stagflation. In ihr verschmelzen Inflation und ein reales BIP, das nicht mehr wächst oder gar schrumpft.5
Das alles klingt viel zu kompliziert – und ist es auch. “Stagflation” ist nicht nur ein hässliches Wort, sondern auch ein hässlich zusammengeklebter Begriff und deswegen ein tatsächlich schlechter Begriff. Jedenfalls im Sinne einer Theorie-Ästhetik, die uns darin leiten will, unsere Begriffe möglichst elegant zu wählen. Wenn man die Welt in Begriffe zerschneidet, dann darf man nicht irgendwie schneiden. Man muss geschickt vorgehen; nicht mit dem Hackebeil, sondern mit dem Tranchiermesser, als läge da ein besonders gutes Stück Fleisch auf dem Küchenbrett. Man zerteile am besten “nach Gliedern, wie sie naturgemäß zu bestimmen sind, ohne dass man versucht, nach der Art eines schlechten Kochs verfahrend, irgend ein Stück zu zerbrechen”, so hat das vor über 2000 Jahren Platon formuliert. Der Begriff “Stagflation” aber scheint die wirtschaftliche Welt, die wir beschreiben wollen, gerade nicht entlang ihrer tatsächlichen Gelenke aufzutrennen.
Einfacher – und im Sinne einer solchen Theorie-Ästhetik deswegen auch richtiger – wäre es, man würde sowohl den Begriff Stagnation als auch den Begriff Inflation aufgeben und stattdessen schlicht von Teuerung sprechen. Das Problem, vor dem wir heute stehen, lässt sich nicht durch die EZB lösen, sondern nur in der echten Welt, in der wir, ganz echt, ärmer geworden sind. Darum braucht es einen eigenen, apokalpytischen Namen für dieses Problem: Teuerung. Und darum sollte man gar nicht mehr von “Inflation” sprechen, wenn man wissen will, worum es eigentlich geht.
Hinweis zu den Bildern: Beide Motive in diesem Artikel wurden mit der KI Stable Diffusion erstellt.
Der Vergleich findet, streng genommen, nicht zwischen dem Jahr 2022 und einem früheren Jahr statt, sondern zwischen dem Jahr 2022, wie es passiert ist, und einem kontrafaktischen Jahr 2022, das, wie wir es erwartet hatten, ohne Krieg verlaufen wäre. Ärmer geworden sind wir also vor allem im Vergleich zu dieser kontrafaktischen Situation, die wir eigentlich erwartet hatten.
Aber nicht nur Liberale verirren sich im Inflationsbegriff. Auch unter Linken und Grünen gerät hier manches durcheinander, gelegentlich sogar alles. Harald Lesch, Physiker und Moderator der ZDF-Wissenschaftssendung “Leschs Kosmos”, beklagte sich in einem Interview mit Blick auf den Klimawandel: “Die Wahrnehmung, dass wir in einer Transformation und die fetten Jahre vorbei sind, hat sich diese Gesellschaft lange erspart.” Und dass man die Wirklichkeit so lange hat ausblenden können, erklärt Lesch sich so: “2008 bis 2022 haben wir kaum Inflation gehabt. Hätten wir jedes Jahr 2 Prozent Inflation gehabt, wären das über 14 Jahre 28 Prozent. Jetzt holen wir all das nach.” Sieht man einmal darüber hinweg, dass 2 Prozent Wachstum über 14 Jahre nicht 28 Prozent ergeben, dann entblößt Lesch hier immer noch, wie ihm beim Nachdenken über Inflation ein Kategorienfehler unterläuft: Ob “die fetten Jahre” vorbei sind oder nicht, das bemisst sich allein daran, ob wir tatsächlich alle ärmer geworden sind, weil uns weniger Güter zur Verfügung stehen. Die Geldpolitik der Zehnerjahre spielt für diese Frage keine Rolle. Man kann nicht an irgendeiner Inflation schon mal üben, wie es ist, wenn das Angebot mal knapper wird.
In einem anderen Sinne ist das durchaus richtig: Möglicherweise sorgt die oben beschriebene Planungsunsicherheit immer dafür, dass wir ein wenig ärmer werden – aber das ist offensichtlich nicht der Zusammenhang, den Thelen oder Buschmann meinen.
Die neuen Begriffe Teuerung und Geldentwertung sollen aber keinesfalls bloße politische Rhetorik sein, die Linken hilft, ihre eigene Position zu vermarkten. Im Gegenteil. Auch Liberale würden von der neuen Klarheit profitieren. Eine Geldentwertung, wie oben definiert, führt nämlich nicht immer zu einem Anstieg des Preis-Index. Wenn gleichzeitig das Angebot wächst, wird das Geld entwertet, ohne dass ein Ausschlag im Index sich zeigt. Jetzt können also Bitcoin-Fans und andere Fiat-Kritiker endlich eine Trivialität klar formulieren, die sie bisher als düstere Verschwörungstheorie ins Internet raunen mussten: Auch dann, wenn der Preisindex nicht steigt, wird unser Geld womöglich entwertet.
Tatsächlich ist eine Stagflation in diesem Sinne gar nicht notwendig, damit wir alle ärmer werden. Ebenfalls müssen verschiedene Szenarien miteinander verglichen werden, die tatsächliche Entwicklung und eine kontrafaktische Entwicklung, wie sie erwartet wurde. Siehe Fußnote 2.