Sind wir wirklich moralisch verpflichtet, uns gegen Corona impfen zu lassen?
Ich finde die Antwort auf diese Frage schwieriger, als es im ersten Moment scheint.
In den letzten Tagen war häufig zu lesen, dass eine solche moralische Pflicht besteht, und zwar weil Ungeimpfte im Schnitt mehr Menschen mit Corona anstecken als Geimpfte. Manche Menschen können sich nicht impfen lassen, für sie bedeutet eine Ansteckung weiterhin große Gefahr. Wer also eine solche unfreiwillig Schutzlose ansteckt, schädigt sie in einer Weise, die vermeidbar gewesen wäre – er hätte sich impfen lassen können, dann hätte er statistisch weniger Menschen angesteckt. Aus dieser einfachen Überlegung folgt prima facie, alle weiteren Aspekte einmal zur Seite geschoben: Man ist moralisch dazu verpflichtet, sich impfen zu lassen.
Diese Argumentation übergeht allerdings einen wichtigen Befund: Unter Virologen scheint es inzwischen die Ansicht zu geben, dass sich früher oder später (nahezu) jeder Ungeimpfte mit dem Corona-Virus anstecken wird, und zwar unabhängig davon, wie hoch die Impfquote ist. So verstehe ich zum Beispiel die Äußerungen von Christian Drosten.
Welche Infektion (außer meine eigene) verhindere ich also mit meiner Impfung, wenn sich sowieso irgendwann jeder anstecken wird? Die Antwort scheint zu sein: letztlich keine. Wenn wir den Satz ernst nehmen, dass jeder sich entweder für die Impfung oder für die Infektion entscheiden, dann gilt auch: Ich kann zwar die Wahrscheinlichkeit senken, dass ich es bin, der einen Ungeimpften ansteckt; aber nicht die Wahrscheinlichkeit, dass der Ungeimpfte sich überhaupt irgendwann ansteckt. Besteht trotzdem prima facie eine moralische Pflicht sich impfen zu lassen? Folgende Argumente könnten dafür sprechen:
Steckt sich wirklich jeder irgendwann an? Es besteht zumindest die grundsätzliche Möglichkeit, dass das nicht passiert. Dass bei einer sehr hohen Impfquote manche Menschen, die keinen Impfschutz aufbauen können, komplett geschützt sind, weil der Virus sie nie mehr erreicht. Wenn sich zu wenig Menschen impfen lassen, verspielen wir diese theoretische Chance. (Gegenfrage: Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass das tatsächlich passiert?)
Wer sich impfen lässt, verlangsamt die Infektionswelle. Man kann nicht verhindern, dass ein Ungeschützter sich infiziert; aber man kann die Zeit bis dahin strecken. Sofern es die begründete Hoffnung gibt, dass demnächst Medikamente oder bessere Impfstoffe zur Verfügung stehen, wäre es unsere moralische Pflicht, uns impfen zu lassen, damit die Ungeschützten sich nicht infizieren, bevor sie Zugang zu effektiven Schutzmitteln bekommen können. (Gegenfrage: Welche plausiblen medizinischen Fortschritte sind zu erwarten in welchem Zeitrahmen? Hier ist sicher die Zulassung von Impfstoffen für Kinder ein entscheidender Punkt. Aber was darüber hinaus ist noch zu erwarten und wann?)
Dass jeder irgendwann mal stirbt, ist kein Grund, ihn nicht möglichst lang zu beschützen. Das gilt auch für jene, deren Corona-Sterblichkeitsrisiko wir nicht mit Impfungen oder Medikamenten senken können. Weil Impfungen die Welle verlangsamen, sind wir verpflichtet, uns impfen zu lassen – denn damit kaufen wir den Ungeschützten mehr Lebenszeit , bis eine Infektion sie bedroht. (Gegenfrage: Über wieviel Zeit sprechen wir hier? Wie lange dauert es bei einer hohe Impfquote, bis das Virus sich doch noch zu jedem durchgeschlängelt hat? Sprechen wir über ein halbes Jahr, über zwei Jahre, über 20 Jahre? Lässt sich das sagen?)
Unsere moralische Impfpflicht lässt sich womöglich nicht begründen mit Verweis auf unser Infektionsrisiko, aber sicherlich doch mit Verweis auf unser eigenes Krankheitsrisiko. Das ist nämlich nicht bloß unsere Sache. Wenn zu viele Ungeimpfte schwere Verläufe erleiden, laufen die Krankenhäuser voll, das Gesundheitssystem wird beeinträchtigt, die Gesellschaft durch Lockdowns geschädigt. Es ist daher unsere moralische Pflicht, uns impfen zu lassen, damit wir keinen schweren Verlauf erleiden. (Gegenfrage: Wenn es bloß um Krankenhauskapazitäten geht, warum gilt diese moralische Pflicht so besonders für die Corona-Impfung? Warum spricht sie nicht, zumindest in diesem Herbst, im gleichen Maß gegen Extremsport als Hobby, gegen Alkoholkonsum usw.?)
Es scheint meiner Meinung nach eine moralische Pflicht zu geben, sich gegen Corona zu impfen. Will man die Pflicht mit Verweis auf Ansteckungen begründen, ist so ein Argument allerdings 1. recht aufwendig und 2. abhängig von vielen letztlich ungeklärten empirischen Details. Plausibler scheint mir eine Begründung, die auf die Schwere des eigenen Verlaufs abstellt. Insgesamt zeigen die hier angestellten Überlegungen allerdings, dass die Begründung für eine moralischen Impfpflicht schwächer ist, als ich bisher dachte. Auch deswegen halte ich eine direkte oder indirekte staatliche Impfpflicht für falsch - für eine solche harte Maßnahme müsste meiner Meinung nach auch ein besonders starkes und klares moralisches Argument für das Impfen vorzubringen sein. Klarer und stärker als die hier genannten Argumente.
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Bild oben: Ein improvisiertes Krankenhaus, das im Februar 2020 im Convention Center der Stadt Baltimore entstand, fotografiert von Patrick Siebert. Lizenz: CC BY 2.0