Das Internet ist unser Feind
Der Komiker Bo Burnham hat allein in seinem Zimmer einen Film gedreht. "Inside" ist ein Meisterwerk geworden
Im Feuilleton der ZEIT ist ein begeisterter Artikel erschienen, den ich über Bo Burnhams Film “Inside” geschrieben habe. Der amerikanische Komiker, Musiker und Filmemacher hat im Laufe der letzten Monate, alleine zuhause in seinem Zimmer, eine Mischung aus Comedy-Auftritt, Musical und Dokumentation gedreht. Nicht alle meine Gedanken zu diesem außergewöhnlichen Werk haben in der Zeitung Platz gefunden. Hier dokumentiere ich die Passagen, die es nicht den Text geschafft haben. Bitte schaut euch “Inside” bei Netflix!
Der Komiker Bo Burnham ist ein begnadeter Beobachter des Showgeschäfts, ein Beobachter zweiter Ordnung: Er schaut sich an, wie seine Kollegen auf die Welt schauen. Und wie er selbst auf die Welt schaut. Man setzt sich als Komiker heute zum Beispiel mit seiner eigenen Rolle auseinander, auch Burnham tut das pflichtschuldig. Die Welt sei voller Übel: “Systematic oppression. Income equality. The other stuff.” Was bedeutet das für einen Spaßmacher wie ihn? “Should I be joking at a time like this?”, singt er. Sollte ich überhaupt Witze machen in Zeiten wie diesen? Die Betonung muss dabei weniger auf den Witzen liegen als auf dem “ich”. Denn Burnham will hier eine Antwort finden auf die geradezu zwanghaft gewordene Frage, welche Rolle ein sogenannter privilegierter Mann (weiß, hetero und so weiter) auf einer Bühne spielen sollte. Sollte er überhaupt eine spielen? Oder sollte er lieber schweigen? Der Gedanke kommt Burnham einmal in einem seiner Lieder, er unterbricht sich dann selbst, die Musik hält an, und wir hören kurz ein Schweigen. Bis Burnham plötzlich wieder ansetzt: I’m bored! Mir ist langweilig! Und die Musik geht weiter.
Burnham erzählt, wie er im ländlichen Massachusetts aufwuchs, sonntags im Anzug zur Kirche trottete und sich, für eine Geburtstagsparty, einmal als Aladdin verkleidete. Das Gesicht, beschwichtigt er gleich, habe er sich nicht eingefärbt – und dennoch komme ihm die Verkleidung heute beschämend vor. Der Song mündet in das tief katholische Schuldbekenntnis: “Father, please forgive me / For I did not realize what I did.” Burnham zieht hier eine Verbindung von der Selbstbezichtigungkultur der weißen Wokeness-Kämpfer zurück bis in seine katholische Kindheit. Und selbst wer diese Analyse nicht mehr allzu originell findet, muss bewundern, wie sich Burnham anschließend frei singt vom Neokatholizismus seines Milieus, zu einem Achtzigerjahre-Dance-Pop-Beat, der an Madonna erinnert, die sich damals vom echten Katholizismus frei sang. Am Ende steht Burnham in verschwitzten Aerobic-Outfit in Erlöserpose an einem Kreuz aus Licht, das sein Beamer an die Zimmerwand geworfen hat.
“Inside” ist tatsächlich ein Meisterwerk, das nur durch einen zweifachen Zufall überhaupt möglich geworden ist. Wäre, erstens, Burnham nicht in seinem Zimmer eingesperrt gewesen und würde er nicht mit anderen jungen Menschen eine Erfahrung teilen, die vielleicht zum ersten Mal seit langer Zeit das Reden von einer “Generation” überhaupt erst sinnvoll macht, dann könnte “Inside” nicht diese erschütternde Wirkung entfalten. Und stünde, zweitens, die Kunstform der Stand-Up-Comedy heute nicht in ihrer vollen Blüte und hätte Burnham nicht hier die Mittel und Wege aufgetan, all das zu verarbeiten, dann wäre auch ihm nichts anderes übrig geblieben, als noch ein Corona-Tagebuch zu schreiben, für das sich am ersten Tag nach Corona schon niemand mehr interessiert hätte.
Diese zwei Zufälle machen diesen Film zum Meisterwerk. Der unwahrscheinlichste Zufall aber ist, dass “Inside” überhaupt ein Werk im eigentlichen Sinne geworden ist – ein abgeschlossenes Stück Kunst. Burnham ist im Netz berühmt geworden, als Lieferant schneller Videoschnipsel. Diese Darreichungsform aber wäre eine Zumutung gewesen für das Material aus “Inside”. Man darf auf keinen Fall einen der Songs aus dem Film bei YouTube anklicken, wo sie inzwischen auch zu finden sind. Sie verlieren dort ihre Wirkung.
Auch das weiß Burnham, er macht diesen Umstand sogar zum eigentlichen Thema seines Films. Burnham richtet die ganze Kraft der Komik gegen seinen erklärten Feind: das Internet – das Internet jedenfalls, mit dem wir es heute zu tun haben und das durchwirkt ist von den Interessen der wenigen Mächtigen. Der Name Jeffrey Bezos spukt durch den Film, wie das Rufzeichen eines Dämons, dem der Komiker immer wieder Passagen eines Liedes widmet, das wir aber nie zuende hören dürfen. Einmal filmt die Kamera Burnham von weit oben, er liegt auf dem Boden seines Zimmers, um ihn herum die Spuren einer wilden Nacht, deren Morgen jetzt anbricht: Ladegeräte, Bildschirme, Kabel. Schwarzen Schnüre schlängeln sich wie Flüsse auf einer Landkarte durch den kleinen Raum. Burnham spricht in ein Mikrofon, das er sorgfältig vor seinem Mund drapiert hat: Womöglich sei es – Burnham versucht müde den Gedanken zu fassen, der ihn plagt – womöglich sei es ein Fehler gewesen, als wir zugelassen haben, dass milliardenschwere Medienunternehmen Profit schlagen aus dem neurochemischen Drama, das in den Köpfen unserer Kinder sich zusammenbraut. Ein Fehler sei es gewesen es, die gesamte menschlichen Erfahrungswelt zu verflachen in einen leblosen Tauschhandel, von dem keiner auf dieser Welt profitiert außer, “you know, a handful of bug-eyed salamanders in Silicon Valley”. So könne man, seufzt Burnham, doch nicht für immer und ewig weiterleben. Oder man will jedenfalls nicht so weiter leben. Das Lied, das Burnham sich selbst zum dreißigsten Geburtstag singt, mitten im Lockdown, er steht dabei einsam in Unterhose in der Mitte seines Zimmers und lässt eine Handy-Taschenlampe um seinen nackten Körper kreisen, endet resigniert: Zehn Jahre noch, dann ist er 40 und macht Schluss. (Er schränkt das schließlich wieder ein: Natürlich möchte er sich nicht umbringen. Außer vielleicht für ein Jahr – “If I could kill myself today and be dead until 18 months from now, I would do it. But alas when you kill yourself, you’re dead forever. And we shouldn’t be dead forever. Yet.”)
Das traurige Gefühl, das “Inside” hinterlässt, rührt nicht bloß her von der Enge eines Zimmers im Jahr der Pandemie. Es ist auch die Enge der digitalen Welt, die uns zusetzt. Manchmal steht Burnhams Kamera auf dem Boden, filmt zwischen dem Gerät hindurch, und findet kaum den Mann hinterm Keyboard, der hier doch im Mittelpunkt stehen soll. Burhams Wohnzimmer ist eine vielleicht fünfzehn Quadratmeter große Analogie auf das Unbehagen am Digitalen, das die postpandemische Welt prägen wird: Die Arbeit im Virtuellen ist trotz der Unendlichkeit von Speicherplatz und Möglichkeiten eine beklemmende. Genauso wie im eigenen Lockdown-Gefängnis fehlt in der digitalen Welt die Perspektive, zwischen den Tabs und Screens, auf denen Burnham immer wieder kontrollieren muss, was er gerade aufgenommen hat,. Man stellt sich vor, wie er immer wieder stolpert über seine Kabel und verrutscht auf dem Touchpad. Man vermisst die Weite; selbst der Beamer, mit dem Burnham häufig Videos an seine schmale Wand wirft, ist nicht weit genug. Burnham projiziert sich das Material dann auf den eigenen Körper, als wolle er fluchen: Es ist so eng hier, ich steh meinen eigenen Bildern im Weg.
Und trotzdem bleiben wir online. “Can I interest you in everything, all of the time?”, singt Burnham – so fasst er das teuflische Angebot zusammen, das uns das Internet macht. Wem gelingt es noch, dieses Angebot auszuschlagen? Burnham muss sich diesem Problem gleich zweimal stellen: Das Internet wie die Stand-up-Comedy duldet keinen Aufschub, der Like oder der Lacher stürzt im gleichen Moment noch herein, in der ein Satz gesagt oder getwittert ist. Burnham weiß: Dass wir also zugleich Narzissten sind und ungeduldig, das zehrt uns auf. Er aber hat sich während der Pandemie am eigenen zotteligen Lockdown-Bart aus dieser Fall gezogen. Wie fast alle wirklich begnadeten Komiker ist auch Burnham ein Pessimist. Und dennoch gewinnt er zuhause in seinem Zimmer zumindest diese Materialschlacht. “Inside” ist nicht das Denkmal einer Niederlage, sondern die Feier eines sehr unwahrscheinlichen Sieges.